Olympische Heuchelei gegenüber China
Die Idee eines Olympia-Boykotts geistert herum. Politiker und besorgte Sportfunktionäre markieren Betroffenheit ob der Spannungen in Tibet. Sie bangen um die Unbeschwertheit der Spiele in Peking und versuchen, ihre unguten Gefühle zu beruhigen, indem sie das Internationale Olympische Komitee zu Interventionen politischer Art bei den chinesischen Machthabern drängen und die Möglichkeit eines Boykotts des Sportanlasses nicht ausschliessen. Wie wenig ernst solche Aufwallung allerdings zu nehmen ist, lässt sich allein schon daran ablesen, dass bis jetzt kaum jemand daran zweifelt, dass trotz allem die Olympischen Spiele im August in China wie geplant über die Bühne gehen werden.
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Arrangement mit Peking
Mit der Vergabe der Spiele an Peking hat man die entsprechenden politischen Risiken in Kauf genommen. Dass diese nun manifest werden, ist nicht weiter erstaunlich. Die Politik eines Landes lässt sich von Olympia weder aufs Eis legen noch ausklammern. Im Gegenteil, sie begleitet das Stelldichein der Sportler aufs Engste. Das salbungsvolle Gerede vom gefährdeten olympischen Gedanken und Frieden kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zuteilung dieses begehrten Anlasses weniger nach sportlichen als nach kommerziellen und politischen Kriterien geschieht. Dies war bei China der Fall und ebenso beim russischen Kurort Sotschi, wo die Winterspiele 2014 stattfinden werden.
Wenn man Olympische Spiele totalitären Regimen zuspricht, hat man sich mit deren politischen Rahmenbedingungen bereits arrangiert. Im Falle Chinas entspricht dies durchaus dem gängigen Verhalten gegenüber der aufstrebenden Wirtschaftsmacht. Seit langem herrscht im politischen Umgang mit dem Reich der Mitte Heuchelei und Selbstverleugnung vor. Darüber ist sich Peking sehr wohl im Klaren. Unvergesslich ist, wie einem im Jahre 1989 in der Woche des Tiananmen-Massakers von offizieller chinesischer Seite in aller Ruhe dargelegt wurde, dass nicht daran zu zweifeln sei, dass die Demokratien nach dem Aufschrei der Empörung sehr bald wieder – ihren ökonomischen Interessen folgend – zu Kreuze kriechen würden. Ebenso unvergesslich ist, wie man in derselben Woche vonseiten der helvetischen Diplomatie darauf hingewiesen wurde, dass es sich jetzt, da das chinesische Regime in politischen Schwierigkeiten stecke, besonders lohne, zu ihm zu halten und die Kontakte zu pflegen.
Namentlich das westliche Ausland hat im Umgang mit China längst seine politische Glaubwürdigkeit verloren. Entsprechend hohl wirken die jüngsten Boykottdrohungen und die wohl kurzfristige Empörung. Wer sich gegenüber dem Pekinger Regime politisch und weltanschaulich permanent verleugnet, kann nicht erwarten, dass er ernst genommen wird, wenn er sich im Interesse ungestörter Sport-Freude plötzlich zu einem moralischen Aufschrei hinreissen lässt. Am allerwenigsten wird das die chinesischen Machthaber selbst beeindrucken.
Gewalttätige Tibeter
Überdies hat das plötzlich erwachte jüngste Tibet-Engagement von Politikern und Medien auch in der Sache selbst seine fragwürdigen Seiten. Die Repression der Chinesen auf dem Dach der Welt ist keine neue Entwicklung. Die Weltöffentlichkeit scheint aber erst dann hinzublicken, wenn der olympische Frieden gestört wird. Geht es wirklich um Tibet und dessen Kultur oder vielleicht doch nur um das Pekinger Sportereignis?
Auch die öffentliche Wahrnehmung der Ereignisse in Lhasa und an andern Orten der Region ist verzerrt. Ein Blutbad der Chinesen wurde geradezu vorweggenommen. Dabei deuten alle Berichte von einigermassen neutralen Augenzeugen darauf hin, dass sich Polizei und Militär in der tibetischen Hauptstadt dieses Mal zurückgehalten haben und ihre chinesischen Landsleute teilweise ungeschützt der brutalen Gewalt der entfesselten Tibeter überliessen. Die konkreten Ereignisse lassen es jedenfalls nicht zweifelsfrei zu, allein den Chinesen alle Schuld zu geben – auch wenn diese zuerst gegen die protestierenden Mönche vorgegangen sind. In exiltibetischen Kreisen gibt es nämlich vor allem in der jüngeren Generation etliche und gut organisierte Heisssporne, die ganz im Gegensatz zum Dalai Lama und dessen Exilregierung ein gewaltsames Vorgehen favorisieren.
Chinesischer Totalitarismus
Trotzdem ist in Pekings Antwort auf den jüngsten Ausbruch aufgestauter Wut und Frustration in Tibet deutlich die Handschrift der totalitären Herrscher zu erkennen. Der Dalai Lama wird in Umkehrung seiner immer wieder dokumentierten Haltung der Gewaltlosigkeit zum Drahtzieher der Gewalt gestempelt. Die bedingungslose Ausrottung des tibetischen Widerstands wird postuliert. Die spannungsgeladene Region wurde hermetisch abgeriegelt, um möglichst unbeobachtet mit Verhaftungen und andern Massnahmen für Ruhe und Ordnung sorgen zu können. Die seit zwanzig Jahren ausgestreckte Hand des Dalai Lama hat das chinesische Regime auch dieses Mal nicht ergriffen. Nichts hat sich geändert seit 1988, als das geistliche Oberhaupt der Tibeter in Europa zum ersten Mal seinen Mittelweg vorstellte, implizit die Souveränität Chinas über Tibet anerkannte und für eine Autonomie seiner Heimat im chinesischen Rahmen plädierte. Schon damals war der Vorschlag von Peking als Finte eines Spalters postwendend zurückgewiesen worden. Dabei läge es durchaus im chinesischen Interesse, sich den mässigenden Einfluss des Dalai Lama in der Tibetfrage zunutze zu machen, solange das noch möglich ist.
Abkehr von der Leisetreterei
Kaum etwas an den Ereignissen der letzten Wochen in China ist also neu oder unerwartet. Vielmehr bestätigen die Vorkommnisse die politische Härte des diktatorischen Regimes, das sich allein durch den enormen wirtschaftlichen Erfolg legitimiert. Die Machthaber würden auch in anderen Fällen politischer Unbotmässigkeit – Tibet ist ja nur ein Problem unter vielen – gleich verfahren. Man denke nur etwa an die herablassend-aggressive Art und Weise, wie Peking mit Asiens fortschrittlichster Demokratie auf Taiwan umspringt und diese unter das Ein-China-Prinzip zu zwingen versucht. Darüber scheint sich in der Weltöffentlichkeit kaum mehr jemand zu empören.
Gedankenspielereien mit einem Olympia-Boykott bleiben unglaubwürdig, solange dahinter nicht eine grundsätzliche Abkehr vom leisetreterischen und einseitig von wirtschaftlichen Interessen bestimmten politischen Kurs gegenüber China steht. Ein empörter Aufschrei für die Galerie als Zwischenspiel vor dem programmierten nächsten Kotau ist ebenso nutzlos wie unwürdig. Gerade die Tatsache, dass China in zunehmendem Mass ein wichtiger wirtschaftlicher und politischer Mitspieler auf der Weltbühne ist, verlangte vom demokratischen Ausland in der politischen Begegnung mit dem Reich der Mitte nicht Unterwürfigkeit, sondern mehr Selbstbewusstsein. Anstatt über Boykottaktionen nachzudenken, wäre es sinnvoller, sich endlich vorzunehmen, im politischen Alltagsgeschäft konsequent seine eigenen Überzeugungen gegenüber China zu vertreten. Von Beat U. Wieser.