II. Als ich vor zweieinhalb Jahren einen Monat in Russland war, galt meine Aufmerksamkeit nicht primär der Politik. Nicht nur, weil ich noch gar nicht ahnte, jemals Politik zu studieren - dieser Gedanke kam erst in China auf -, vielmehr war ich mit allzu viel Übrigem und vorwiegend mit mir selbst beschäftigt. Zwar habe ich in Ulan Ude immerhin die grösste Lenin-Büste der Welt besucht (Bild), ansonsten bin ich an den vielen Gedenktafeln, Statuen und Abbildungen von Stalin, Lenin und schliesslich Putin eher gedankenverloren vorbeispaziert. Russland ist ein Land - ein Kontinent - den ich wiederbesuchen möchte. Nicht, dass mir dieser eine, ziemlich einsame Monat, in dem ich etwas ängstlich noch und ohne jegliche Russischkenntnisse alleine durch Taiga und Tundra gereist bin, als besonders ermunternde Zeit in Erinnerung geblieben wäre; allerdings, und das kann ich erst heute und gerade im Vergleich mit anderen Ländern und Gebieten, die ich erleben und erreisen durfte, feststellen, hat Russland eine mir gutbekannte Seele, ein poetischer Geist, den mich fasziniert und einnimmt. Tolstoi und Dostojewskij stehen so denn nur an der Spitze eines seltsamen Volkes, das, geprägt durch kalte Winter, die Abgeschiedenheit, eine kontroverse und machtvolle Geschichte und die unendliche Grösse ihres Landes, eine eigene, immer etwas wehmütig anmutende und doch sehr erhabene Kultur und Gesellschaft hervorbringt. Der Russe ist mir ein Verwandter, einer, den ich zu verstehen glaube, einer, der in seinem eigenwilligen Blick die Melancholie der Welt mit sich trägt, nicht jedoch an ihr zerbricht, sondern formen, verarbeiten kann, in lebendige, wenn auch etwas schwere Poesie umzuwandeln weiss. Ich erinnere mich an Petersburg und Moskau, die der Grösse und Weite des Landes Kontrast und Gegenstück sind und doch dies kleine russische Universum auf wenigen Quadratkilometern zu konzentrieren versuchen. Es sind lebendige und doch recht schwermütige Orte, Städte, in denen sich jeder ein wenig als Poet und Dichter fühlt, Städte, in denen Geschichte überall, in jeder Seitengasse, irgendwie spür- und fühlbar ist.
Doch zurück zur Politik. Politik scheint in diesem Land mehr als irgendwo sonst ein Schauspiel der Macht zu sein, ein Wettkampf mit einer historischen Konkurrentin, der Sowjetunion, an deren Stärke, Macht und Einfluss letztlich Mass genommen wird. Die UdSSR ist, so schien es mir, kein historisches Relikt, sondern vielmehr noch immer eine reale politische Maxime, ein machtvolles Ideal, das es anzustreben gilt, dessen kräftige, globale Ausstrahlung wiedererlangt werden soll. Der Weg ist Mittel zum Zweck. Medwedew, Putin, Jelzin - einerlei. Es scheint fast, als würde Politik in Russland viel weiter vom Realen entfernt sein, als dies sonstwo der Fall ist, als wäre Politik ein nächtlicher Mond, der weit weg vom Geschehen der russischen Seele Weg und Gefahr leuchten soll, ohne sie jedoch zu berühren, ohne sie zu stören. Ja, und so bleiben Kultur, Gesellschaft und Politik einander getrennt und fremd, bilden ab und an ein ungleiches Paar zwar, verstehen sich schlecht und ziehen es schliesslich vor, alleine weiterzuziehen.
Ob ich das gutfinde? Nein. Ob ich es verstehe - die Ewigkeiten der Tundra vor Augen? Ja.
Die russische Wirklichkeit ist ein erhabenes, universelles, geordnetes Chaos. Fjodor Michailowitsch Dostojewskij
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