26. Oktober 2006

Lesespass III

Eben, da, oben sah ich einen Vogel. Er flog in diese Richtung, hinters Haus, weiter, dem Walde entgegen, schliesslich zu und über die Berge. Bald erreichte er das Meer, flog, flog, entdeckte Inseln, Schiffe, vereinzelt, grössere und kleinere, weisse und blaue Wellen. Und wieder kam Land, kam Wüste, kam Sturm, Regen, Schnee, Sonne. Tier und Mensch, Baum und See zogen vorbei, hinterliessen Düfte, Hoffnungen, kleine und grosse Zaubermusik. Es wurde Tag, wurde Nacht, immer weiter trugen ihn seine grossen, erwachten Flügel. Wohin? Zu mir und aus mir. Schmerz wie Freude zog er an, trank und verschlang er, flog davon, kehrte um, sah, schwieg, weinte, lernte. Lange am Ende seiner Kräfte zehrend erlebte er Tiefstes und Höchstes, verliess sich, fand sich aufs Neue, immer wieder, bald mehr, bald weniger. Als sei’s der einzige Flug, als sei nichts ausser dieser Wolke- jetzt und jetzt – und dieser zaudernder Winde, nahm er die Zeit in sich auf, bis zur Verschmelzung mit ihr, bis war, was ist, wird, was gewesen. Ja, natürlich, er träumte. Träumte in völliger Missachtung aller und jeder Wirklichkeit, schaute weg, vielleicht, hatte Angst. Doch er lebte und überlebte, als Mensch, als sich und mit sich, niemand war seiner Flügel mächtig. Der Himmel war ihm Kunststube, war ihm Festplatz, Hochseiltanz, gefährlich und doch – wie wichtig!
Flieg weiter, oh Vogel, flieg bis zur Sonne, erschaue und erkenne: sie ist die Grenze. Weil nicht nur das Herz sehen kann.

4. Oktober 2006

Lesespass II

Am Ende stösst man auf den Anfang, und immer wieder, im Kreise, spielt sich dies ewige Dahinpendeln des Lebens ab, bis zur Extase, darüber hinaus, an die Grenzen, darüber hinaus. Es gibt keine Grenzen. Ich bin gewandert, nicht weit, ach, und doch – wie weit der Weg war. Der Weg hat sich gekrümmt, oft ins immergleiche Unendliche, bis Kurve, Bogen, Ecke wieder zur Gerade wurden, immer dann vielleicht, wenn es zuvor kalt war, wenn Herz, Seele weinten, wenn das Licht weit schien, das Leben bedeutungslos. Am Ende, am neuen Anfang, steht nun dieser Berg, er wird mit jedem Schritt kleiner, vielleicht bedingungsloser, vielleicht härter; es ist mein Berg, mein Werk, meine Bestimmung, mein ganzes Sein, mein auszufüllendes Ich, Welt, Friede, Krieg, Teufel, Gott. Tausendmal zerbrochen bin ich wieder aufgestanden, auferstanden – es gibt so viele, zu viele Berge. Wie wanderlustig und doch schwach ich bin, wie klein, wie wenig ich einatmen, wie wenig ich auftrinken kann.
Oh, und wie gut mir doch dieser meine Berg, mein Freund ist. Ziel ist dies: Ein Höhenfeuer zu errichten, ein lebendiger, fackelnder, ja glühender Stern, der zu den Gipfeln, die ich nicht erwandern kann, zum einsamen Einzelnen vordringt, ihn erwärmen, ihn ermenschen, ihm Licht sein kann.
Noch ist das Feuer nicht entfacht, die Suche nach Holz ist schwer, ist Leben. Doch ich gehe, geschwind, sammle, tanze, weine, will Feuermachen lernen, einen Stern gebären. Und ich bin noch nicht müde…